Sonntag, 25. August 2013

Cholera in China - Ernte für den Himmel

Weinberg in der Provinz Schantung (Quelle: Canuckpilot)
In der ehemaligen deutschen Bergwerkkolonie Fangtze (Ost-Schantung) eröffneten wir vor anderthalb Jahrzehnten ein Waisenheim „Immakulata“, zur Rettung ausgesetzter oder weggeworfener Kinder und anderer Unglücklicher, für die der Heide weder Herz noch Hilfe hat. Allmählich kamen andere Werke hinzu, Katechistinnenschule, Greisinnenheim usw., so dass die Anstalt sich zu einem blühenden Missionsmittelpunkt auswuchs, um welchen seither ein Kranz neuer Christengemeinden entstanden ist.

Im Spätsommer brach in einzelnen Bezirken die Cholera aus, und bei der bekannten Unreinlichkeit der Chinesen und dem Fehlen jeder gesundheitlichen Maßnahme räumte die Seuche furchtbar auf. Meistens dauerte die Krankheit nur einen Tag, oft noch weniger, und diese plötzlichen und häufigen Todesfälle erfüllten das arme Volk mit Schrecken.

Fast jeden Morgen zogen unsere Schwestern, zwei und zwei, hinaus ins Choleragebiet, emsigen Schnitterinnen vergleichbar, die kostbare Garben für die Himmelsscheune einsammeln. Ein Arzneikörbchen öffnete ihnen alle Türen und Herzen. 
Das Hauptheilmittel in jenen Tagen war das Taufwasser, die „Arznei gegen tödliches Fieber“, wie es von den Heiden genannt wird.
Am Eingang des Dorfes wird die Ankunft der fremden Ärztinnen durch ein Glöcklein gemeldet. Weinende Mütter, ihre sterbenden Lieblinge auf den Armen, eilen herbei, voll Hoffnung…leider! Da hilft kein anderes Heilmittel mehr. Nur das „Fieberwasser“ träufelt über die Stirne, eine Menschenseele ist wiedergeboren zum Kind Gottes und wird in wenigen Stunden ein Engelein sein!... Zu beiden Seiten der Straße stehen plumpe chinesische Särge.
„Wer ist denn hier gestorben?“
„Meine Mutter und meine zwei Brüder!“ Ein anderer: „Meine Frau und drei Söhne.“ Ein Dritter: „Meine Schwägerin und Schwester.“
„Sind sie lange krank gewesen?“
„Gestern Abend aßen sie noch Wassermelonen, und nun sind sie schon tot!“ 

„Sind noch Kranke im Dorf?“
„Geht, und seht selber nach“, antwortet kalt der Totengräber, „ich habe genug mit den Toten zu schaffen!“
Da wankt ein Mütterchen herbei, bleich und gebrochen. „Kommt in meine Hütte“, fleht sie, „zu retten, was noch zu retten ist! Sehr ihr dort die vier Särge auf dem Acker? Dies ist mein Sohn, das mein Mann, das mein Schwager, jenes seine Frau, alle, alle tot! Ich selbst habe die schreckliche Krankheit überstanden. Niemand war im Hause, der mir einen Trunk kalten Wassers hätte reichen können. Auf dem Boden kriechend schleppte ich mich von einem Kranken zum anderen, und nun sind sie alle tot, bis auf meine Schwiegertochter, die auch im Sterben liegt. O kommt und rettet wenigstens diese!“…
Es ist ein schrecklich verpesteter Raum. Am Boden liegt die junge Frau, mit blauen Lippen, tiefeingesunkenen Augen, stöhnend. Sie ist, nach heidnischer Sitte, schon mit ihren bunten Feierkleidern angetan, bereit für die Reise in die Ewigkeit. 
Zum Glück hat sie noch, wie die meisten Cholerakranken, ihr volles Bewusstsein. Wir machen uns daran, auch ihre Seele für die große Reise auszurüsten. Wir kauern neben ihr am Boden nieder und bringen ihr die Hauptwahrheiten unserer heiligen Religion bei. Trotz ihrer schmerzlichen Krämpfe folgt sie mit Teilnahme, denn die Gnade Gottes hilft gewaltig mit. Nach einer qualvollen Katechismusstunde wird die Sterbende getauft, und bald entfliegt ihre Seele im Kleid der Unschuld in ein besseres Jenseits.

 Als wir uns am Abend auf den Heimweg machen wollen, ruft uns ein Junge zu: „In jener Hütte liegt ein totes Kind. Es atmet noch ein wenig!“ Schnell dorthin! Der Vater, sein vierjähriges Töchterchen in den Armen, kommt uns auf der Schwelle entgegen. Welch ein holdes Mädchen! Ich nehme das Wunderfläschchen hervor: „Theresia, ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!“ murmele ich in einer dem Alten unbekannten Sprache, dieweil das „Fieberwasser“ über die Stirn der Kleinen fließt. 
Sie schlägt ihre Äuglein auf, wie verklärt, ein letztes, herrliches Aufleuchten. „Sie lebt! Sie lebt!“ rufen erstaunt hundert Stimmen. „Mutter! – Mutter!“ stammelt die Kleine noch. Es war das Leuchten der scheidenden Sonne, ein verstohlener Strahl aus dem Jenseits, aus der geöffneten Paradiesespforte: der Engel war entflogen!

In einem anderen Dorf fanden unsere Schwestern eine ganze Reihe sterbender Kinder am Rande des Weges liegen. Nach heidnischem Aberglauben dürfen nämlich kleine Kinder nicht innerhalb des Hauses sterben, sonst bringen sie Unheil über die ganze Familie. Daher hatte der Ortsvorstand die kranken Kleinen draußen nebeneinanderlegen und sterben lassen. Als sich die Schwestern über die Lage klar waren, griffen sie rasch zum „Fieberwasser“: Ein Mann rief ihnen zu: „Das sind ja nur Kinder; die haben keine Seelen! Wenn ihr was tun könnt, so geht in die Häuser hinein; dort liegen fast alle Leute krank. Das ganze Dorf ist verseucht!“

Noch 23 sterbende Kinder wurden an jenem Tage getauft und etliche Erwachsene. Wir hatten aber manchmal mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Misstrauen und abergläubische Vorurteile sperrten uns den Weg. Zudem hat in den Augen der Chinesen ein Kindesleben, namentlich eines Mädchens, wenig Wert. Tränen kamen mir in die Augen, wenn ich diese armen Wesen in irgendeiner düsteren Ecke der Hütte hilflos hinsiechen und verkümmern sah. Wenn wir uns erboten, sie zu pflegen, hieß es: „Lasst es nur bleiben; es sind ja nur Mädchen!“
So besuchten wir ein Haus, wo, wie man uns mitgeteilt, ein Knäblein schwerkrank daniederlag. Wir wurden ziemlich kalt empfangen. Ich hörte das arme Kind ächzen und stöhnen, durfte mich aber seinem Lager nicht nahen. Ich bat in meinem Herzen Gott um Hilfe für diese unschuldige Seele.
Es entspann sich ein Gespräch mit den Frauen der Familie, die offenbar noch nie Europäer aus der Nähe gesehen hatten. Ihre anfängliche Scheu wich bald ihrer Neugier. Sie stellten eine Menge drolliger Fragen, wurden immer zutraulicher und begannen sogar unsere fremde Tracht zu untersuchen. Da gewahrten sie plötzlich meine „großen“ (normalen) Füße! Ein Schrei der Verwunderung! Während nun alle Augen und Zungen mit meinen „großen“ Füßen beschäftigt waren, schlich meine ziegenfüßige chinesische Gefährtin unbemerkt zur Seite und gab dem Jungen die seelenreinigende Waschung.

So glücklich waren wir indes nicht immer. Einmal hörten wir wieder von einem kranken Kind, und obwohl es „nur ein Mädchen“ war, wollten wir es doch sehen. „Zu spät!“ sagte uns eine Nachbarin. „Gestern Abend hat es seine Mutter hinausgetragen vors Dorf. Es wimmerte noch.“ Wir gingen rasch zur bezeichneten Stelle. Zu spät! Es war schon ein Rudel Hunde vorbeigekommen. Wir fanden nur noch ein leeres Strohbündel und ringsum blutige Fetzen!
Und so war es gewöhnlich in der Nähe der Dörfer; überall leere Mattenstücke, Lappen, blutige Reste: grausige Spuren eines grausamen Aberglaubens!

So ging es Tag für Tag, mehrere Wochen lang, Trotz der großen Strapazen in sengender Hitze, auf staubigen Wegen, in verpesteten Hütten, blieben alle unsere Schwestern gesund. Die vielen Hundert geretteter Engel haben offenbar uns und unsere Missionsanstalt beschützt. Sie werden sicher auch dankbare Fürsprecher sein für die Waisen- und Missionsfreunde, die durch ihre Almosen unser Wirken in den Missionen unterstützen.

Fangtze (Schantung), China

Schw. M. Symphoriana F.M.M.


(Aus: die katholischen Missionen, 1920)

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