Dienstag, 4. März 2014

„Es geht uns allen sehr gut“ – Erzählung aus dem vielleicht ärmsten Aussätzigendorf der Welt


Einem Privatbrief des hochw. P Bregère an seine Familie entnehmen wir Folgendes über seine Tätigkeit unter den Aussätzigen. Der Brief ist datiert aus Namehama, Januar 1875.

„In Madagaskar gibt es viele Aussätzige; wie überall, so sind auch hier diese Unglücklichen aus den bewohnten Orten verbannt und müssen sich in einer tiefen Schlucht oder auf einer öden Anhöhe ansiedeln. Während aber zivilisierte Völker wenigstens soviel Mitgefühl empfinden, dass sie für den Unterhalt der Verstoßenen in allem sorgen, kennt man hier in Madagaskar dieses Mitleid nicht; man sagt einfach zu dem Aussätzigen: „Mach‘, dass Du mir aus den Augen kommst und sorge für Dich, so gut Du kannst.“ 

Unsere madegassischen Aussätzigen müssen daher ihre Wohnorte verlassen und sich irgendwo eine Hütte errichten; gewöhnlich sammeln sich mehrere Ausgestoßene am gleichen Ort und bilden kleine Dörfchen. So ist es auch in der Nähe von Namehama der Fall, wo sie die Leprosenniederlassung von Ambulutara gebildet haben. Wollt Ihr mit mir dort einen kleinen Besuch machen? Wir gehen etwa drei Viertelstunden und sind an Ort und Stelle.

„Aber wo ist denn Dein Aussätzigendorf?“ fragt Ihr mich. – „Nun, hier; seht Ihr es denn nicht?“ – „Aber diese Hundelöcher werden doch nicht von Menschen bewohnt werden?“ – „Leider, ja.“ – „Und wo ist Deine Kirche?“ – „Ich habe keine. Seht Ihr diesen Baum mit knorrigem Stamm und wenigen Blättern? Es ist der einzige ringsherum; an seinem Fuß versammle ich meine Christen. Ich stelle mich an den Baum und sie drängen sich im Halbkreis um mich. 

Eines Tages aber bewiesen sie mir eine große Aufmerksamkeit, indem sie mit nicht geringer Mühe einen Stein herbeigewälzt hatten, damit ich mich auf denselben setzen könne; jetzt ist er schon mit Moos überwachsen und bildet eine schöne Kanzel.“ Aber gehen wir voran und betrachten wir uns zuerst diese Hütten. Ihr Bau ist sehr einfach und nimmt kaum einen halben Tag in Anspruch. Mit Hilfe einer langen, schweren Schaufel gräbt man in der Erde ein Loch von zwei Meter im Geviert und einem halben Meter Tiefe. Die ausgeworfene Erde wir mit Wasser begossen, am Rande des Lochs aufgehäuft und bildet so Mauern, die sich etwa einen halben Meter über die Fläche erheben. Über diese Mauern deckt man nun Schilf, lässt eine Öffnung an einer Seite, und das Haus ist fertig. Jeder Aussätzige hat seine eigene Hütte; in derselben hat er sein Bett, d.h. eine Strohmatte auf dem nackten Boden, seinen Feuerherd, seinen Vorrat an Reis und Wasser – kurz sein ganzes Besitztum.
Meine kleine Gemeinde zählt etwa 25 Personen, Männer, Frauen und Kinder; Ihr sollt sie sehen. Sie haben uns schon bemerkt und kriechen aus ihren grabartigen Höhlen hervor, um sich beim Baum zu versammeln; gehen wir also, unsern Sitz auf dem moosbewachsenen Stein einzunehmen.

„Guten Tag, Vater!“ ertönt es uns entgegen. – „Guten Tag, Kinder. Wie geht es euch?“ –„Es geht uns allen sehr gut,“ lautet die Antwort.
Es geht ihnen gut, und ein freundliches Lächeln verklärt diese schwarzen, durch den Aussatz entstellten Züge. Es geht ihnen gut, sehet nur diese Hände ohne Finger, diese Füße ohne Zehen, diese zerfressenen Leiber, welche nur notdürftig mit ein paar Lappen von Hanftuch bedeckt sind.

„Nun, Kinder, wollen wir einen Hymnus singen.“ Hört Ihr diese Stimmen und diese wohlklingenden Akkorde? Ich höre sie nie ohne tiefe Bewegung und es ist schon mehrmals vorgekommen, dass Vorübergehende, die weniger, als ich, an diesen Gesang gewöhnt sind, beim Anhören in Tränen ausbrachen. Der Aussatz hat in meinen Kindern denn doch nicht alles zerstört; er hat ihnen die Stimme gelassen, aber auch den Verstand, um Gott zu erkennen, und das Herz, um Ihn zu lieben.

Aber halten wir uns nicht zu lange auf; Ihr habt nun das Elend gesehen: arme Aussätzige ohne ordentliche Wohnung, ohne ordentliche Pflege, beinahe ohne Hilfe, und sogar ohne Gotteshaus! Und doch sind diese armen Verlassenen mein Trost und meine Hoffnung; von den sieben Gemeinden, die mir anvertraut sind, ist keine so eifrig und beständig, wie meine Aussätzigen. Anderswo kommt es vor, dass einzelne Glieder abfallen, hier habe ich keinen Abfall zu fürchten; die Ketzerei wagt sich nicht an die Aussätzigen.

 Nur einmal versuchte ein protestantischer Madagasse, unter meinen Aussätzigen einen Anhang zu gewinnen, indem er ihnen Geld und Kleidungsstücke anbot. Und doch haben meine Aussätzigen der Versuchung widerstanden. 
Der Chef der kleinen Gemeinde, ein armer Sklave, nahm das Wort und redete seine Untergebenen an: „Von den Protestanten wollen wir nichts annehmen, denn sie wollen uns durch ihre Geschenke nur verlocken, dass wir unseren Glauben aufgeben. Wenn wir etwas nötig haben, brauchen wir es nur dem Vater zu sagen, und er wird es uns geben, wenn er kann.“ Diese Worte schlugen durch und der Protestant konnte mit seinem Geld und seinen Stoffen wieder abziehen.

Aber, fragt Ihr mich, woher nimmst Du denn die Mittel, um Deinen Aussätzigen alles Nötige zu geben?“ Antwort: Erstens kann ich ihnen nicht alles geben, was sie brauchen, weil ich es nicht habe; zweites aber lassen mich die guten Katholiken in Europa nicht im Stich. 
Noch neulich erhielt ich 50 Franken und diese reichten gerade aus, um für die nackten und kranken Leiber die allernotwendigsten Kleider zu kaufen. Daher hoffe ich zuversichtlich, dass ich mit der Zeit das notwendige Geld erhalten werde, um eine kleine Kapelle für meine Kinder zu bauen, ihre Hütten etwas besser einzurichten usw. Die Katholiken in Europa werden ja nicht vergessen haben, dass es Jesus Christus selbst ist, den sie in diesen armen Aussätzigen kleiden, nähren und beherbergen.


(Aus: die katholischen Missionen, 1875)

Siehe auch:

Bei den Aussätzigen auf Madagaskar