Samstag, 5. Juli 2014

Eine Aussätzige aus der Klasse der Samurai

Im Aussätzigenheim von Biwasaki

Der Bericht der ehrwürdigen Oberin von Biwasaki, Schwester Colombina, hat die Herzen mancher unserer Leser sichtlich sehr gerührt und unerwartet reiche Gaben fließen lassen.
In einem ausführlichen Schreiben an die Redaktion dankt die Oberin von ganzem Herzen. „Alle Gaben unserer Wohltäter sind richtig in unsere Hände gelangt und bedeuten für uns eine große Hilfe. Der Umstand, dass manche dieser Almosen zweifellos die Frucht eigener Entsagung und Selbstverleugnung gewesen sind, macht sie uns doppelt teuer.

Wir kennen unsere Wohltäter im Einzelnen nicht; sie blühen wie Veilchen im Verborgenen, aber sagen Sie ihnen, dass unser Gebet sie alle ohne Ausnahme umfasst, sie, ihre Familie, und nicht zu vergessen ihre lieben Toten, für die wir täglich zweimal ein besonderes De profundis beten.

Es wird unsere Wohltäter gewiss freuen, wenn ich ihnen nun auch sage, welchen Segen ihre Gaben hier gestiftet haben. Dank der reichen Unterstützung konnten wir im verflossenen Jahr eine größere Zahl Aussätziger aufnehmen, wenn auch leider nicht alle, die darum nachsuchten. Einige haben uns verlassen, um dieses Tränental mit einem besseren Leben zu vertauschen. Ihre Plätze wurden sofort durch andere ausgefüllt.

Ein jeder dieser Unglücklichen hat seine eigene, oft ergreifende Geschichte. Gestatten Sie mir, dass ich nur von einem Fall näher berichte. Es handelt sich um eine Unglückliche, die zum alten Adel Japans gehört. Eines Tages klopfte es abends um zehn Uhr an unsere Pforte. Es war ein junger man von militärischem Aussehen.

‚Bin ich hier recht‘, lautete die Frage, ‚wohnt hier Schwester Colombina?‘ ‚Ja, treten Sie doch bitte ein.‘ Darauf hob der Unbekannte aus einem Wägelchen eine völlig verhüllte Gestalt und zog das Tuch weg, das ihr Angesicht verbarg. Es war das vom Aussatz entstellte Antlitz einer jungen Frau.

‚Das ist meine ältere Schwester‘, fuhr der junge Mann fort. ‚Wir gehören zur Klasse der Shizoku (Samurai) und kommen von Okayama. Ich war von frühester Jugend an eine Waise. Meine Schwester hier hat sich meiner angenommen und ihr Vermögen und ihre Aussichten geopfert, um mir eine gute Erziehung zu sichern. Vor drei Jahren verließ ich die Militärschule als Leutnant und wurde in die Garnison nach Formosa (Taiwan) versetzt. Ich ließ meine damals schon leidende Schwester unter der Obhut einer Dienerin zurück und schickte monatlich meinen Sold zu ihrem Unterhalt. Als aber der Aussatz sich zeigte, ließ die Dienerin meine Schwester im Stich, und sie hatte niemand mehr, der sich ihrer annahm. Auf die Kunde davon gab ich meine Karriere daran und eilte an ihr Krankenbett.

Aber in wenigen Monaten waren alle unsere Ersparnisse aufgezehrt. Wir wohnten in einem armseligen Raum und lebten ausschließlich von gekochtem Korn ohne weitere Zutat. Ich erfuhr von Ihrem Heim und habe meine arme Schwester hergebracht. Haben Sie Mitleid und nehmen Sie sie auf.‘

Der junge Offizier sagte dies mit flehendem Ausdruck in seinen männlichen Zügen. Dies und das Aussehen der Unglücklichen, die einer lebenden Leiche glich und ihre Tränen mit den Bitten ihres Bruders vereinte, ergriff uns tief. Ich ließ sofort ein Bett bereit machen und auch dem jungen Mann ein Nachtquartier bereiten. Ein kleines Abendessen vereinte die beiden Geschwister. Tags darauf zog der junge Mann von dannen, voll Freude, seine arme Schwester so gut geborgen zu sehen. ‚Ich fühle mich wie im Himmel‘, sagte sie beim Abschied.

Schon bald tat sich ihr der eigentliche Himmel auf. Sie starb fromm ergeben als Christin. ‚Bitte‘, so lautete ihr letzter Wunsch, ‚Schreibet meinem Bruder, dass ich glücklich als Christin sterbe und ihm dieselbe Gnade wünsche.‘

Dank der reichen Unterstützung konnten wir verschiedenes zur Besserung der Lage unserer Aussätzigen tun. Die Papierdecke in den Krankenräumen wurde durch eine aus Brettern ersetzt, die Kleidung aufgebessert und das Lager durch einige warme Decke bereichert usw. 

Nachdem so für die Aussätzigen gesorgt war, konnten wir wenigstens zum Teil einen längst gehegten Wunsch des P. Corre erfüllen und die Zahl unserer Katechistinnen vermehren. Dieselben sind unserer Genossenschaft aggregiert und leisten ausgezeichnete Dienste. Nachdem sie uns bei der Pflege der Kranken an die Hand gegangen sind, ziehen sie zu zwei und zwei aus und gehen auf die Suche nach armen und verlassenen Kranken und sterbenden Kindern. Zuweilen bleiben sie ein bis zwei Tage fort und kehren kaum je zurück, ohne einige getauft oder einige ganz verlassene Aussätzige ausfindig gemacht zu haben. (…)

(Aus: die katholischen Missionen, 1910)