Samstag, 24. Mai 2014

„Ich hätte nie gedacht, dass es einen so gütigen und barmherzigen Gott gebe“ – eine rührende Aussätzigengeschichte

P. Dieckmann, der Aussätzigenfreund

Bericht von P. Theodor Dieckmann, Missionär in der Erzdiözese Madras:

„Als ich eines Abends aus einem benachbarten Dorf vom Religionsunterricht heimkehrte, wehte mir, in der Nähe meines Hauses angekommen, die Nachtluft einen solchen üblen Geruch entgegen, dass ich unwillkürlich das Riechorgan mit dem Taschentuch verhüllte. Ich glaubte, es sei wieder einmal der Kadaver eines in Verwesung übergehenden herrenlosen Hundes zum Dorf herausgeschleppt worden. Denn das ist hier gar nicht selten der Fall. 


An der Pforte meines Hofes stieß mein Fuß im Dunkeln an einen Gegenstand, von dem der verdächtige Geruch ausgehen musste. Auf den Ausruf: ‚Hallo, was gibt’s da?‘ kam die Antwort: ‚Rahma, Rahma, hilf!‘ Rahma ist der Name eines der Götter, der hierzulande von den Heiden häufig angerufen wird. Auf die Frage: ‚Wer bist du? warum liegst du hier?‘ wurde mir mit derselben tiefen, hohlen Stimme erwidert: ‚O Rahma, ich kann nicht mehr – ich bin krank – ich sterbe vor Hunger!‘ 

Ich zündete ein Streichhölzchen an. Ein Blick genügte, um mir zu sagen, dass ich einen Aussätzigen vor mir habe; ja nicht bloß das, sondern nur mehr eine Masse von Eiter und Geschwür. Ich sagte ihm, wenn er wünsche, könne er in dem nur wenige Schritte entfernten Pilgerhaus für die Nacht ein Obdach finden. Freudig erwiderte er: ‚O Rahma, wie gut, o Rahma, wie schön. Dank, Dank, seit zwei Monaten habe ich kein Obdach mehr gesehen.‘ 

Als ich den Leidenden anfassen wollte, um ihn aufzuheben, rief er aus: ‚Nein, o nein, alles an mir ist Eiter, wenn Sie mich anfassen, fällt das Fleisch herunter. Gehen kann ich nicht, aber ich kann noch kriechen. Wenn Sie mir helfen wollen, so fassen Sie das Ende meines Stocks an und heben ihn ein wenig, wenn ich mich aufhebe.‘ Unter dem einen handlosen Arm hielt er nun den Stock gepresst, das andere Ende stütze er auf den Boden. Indem er sich so auf den Stock und die andere Hand lehnte, rutschte er jedes Mal ein paar Zoll vorwärts. 

Am Pilgerhaus angekommen, befahl ich ihm zu warten, bis ich Licht geholt und nachgeschaut hätte, ob Schlangen darin seien, da seit einiger Zeit nicht geöffnet worden war. In meiner Wohnung angelangt, befahl ich dem Knecht, mein für mich bereitetes Abendessen, eine Matte, Tücher und Laterne zu nehmen und mir zum Pilgerhaus zu folgen. 
Sobald das Licht auf die entstellte Gestalt fiel und der Knecht den abscheulichen Geruch verspürte, setzte er alles auf den Boden und lief davon. 

Und in der Tat – es war schrecklich anzusehen. Ich habe in meinem Leben viele Aussätzige, viele eklig eiternde Wunden gesehen, jedoch solch ein Jammerbild war mir noch nie vorgekommen. Der eine Fuß war abgefallen; bis zum Knie hinauf war an dem fußlosen Schienbein weder Fleisch noch Haut zu sehen; der verdorrte Knochen hing vermittelst einiger Sehnen am Oberschenkel und dieser selbst war eine faulige Masse, aus der lebende Würmer fielen. Der andere Fuß hatte die Zehen verloren. Die Knochen sahen rot aus und wimmelten von Würmern. Der angeschwollene Schenkel triefte vor Eiter. Rippen und Schultern waren bloßgelegt. Eine Hand war ganz abgefallen, an der anderen waren noch der Daumen und die beiden ersten Finger. Kleidungsstücke hatte er keine mehr am Leib. Ich wunderte mich, wie es möglich sei, dass ein Mensch in solchem Zustand noch leben und noch solchen Mut und Kraft bekunden konnte. Er sagte ganz heiter: ‚Ich fühle nur noch wenig Schmerzen im Gesicht und an den beiden Fingern. Mein größter Schmerz ist der Hunger; wenn ich etwas zu essen hätte, könnte ich noch länger leben.‘ Als ich ihm die mitgebrachte Speise vorsetzte, fiel er gierig darüber her. Und als er die letzten Brocken mit den verstümmelten Fingern nicht aus der Schüssel bringen konnte, beugte er sich darüber her und leckte alles rein aus. 

Ich breitete die Matte aus und rollte das mitgebrachte Tuch um ihn herum und sagte, er solle jetzt ausruhen. Da brach er in Tränen aus und sagte unter Schluchzen: ‚O wie wohl fühle ich mich jetzt – Dank, Dank.‘ Als ich ihn am anderen Morgen besuchte, saß er bereits aufrecht, und auf meine Frage nach seinem Befinden antwortete er: ‚Ich bin ganz wohl, nur möchte ich etwas Wasser haben.‘ Ich brachte ihm Wasser, eine Schüssel voll Reis und ein gebratenes Hühnchen. Der arme Mann verschlang alles mit Heißhunger. In den beiden ersten Tagen wurde er nie satt. 

Nachdem er gespeist, fragte ich ihn, woher er komme, wohin er wollte, nach Kaste und Namen. Er erzählte mir dann folgende traurige Geschichte: 

‚Mein Name ist Gottimukula Ramaja. Ich gehöre zur Bojakaste und wohnte früher im Dorf Schavalaguram. Ich besaß Felder und Ochsen und stand bei allen in großem Ansehen. Als mich der Aussatz befiel, verschwand diese ganz Herrlichkeit. 
Zuletzt stießen mich meine Söhne und mein Weib aus dem Haus; sie sagten, niemand könnte meinen furchtbaren Geruch ertragen. Da wollte ich mir auf meinem eigenen Boden eine andere Hütte bauen lassen. Jedoch meine Kinder und ihre Mutter wollten mir weder Geld zum Bau noch Korn zum Essen geben und trieben mich mit Gewalt aus dem Dorf. Niemand wollte sich meiner erbarmen. 

Man sagte mir, ich solle nach Phirangipuram [die Missionsstation des P. Dieckmann] gehen, wo ein weißer Mann wohne, der mir vielleicht Medizin geben werde. Zwei Monate irrte ich umher, um ihn zu finden. Anfangs konnte ich noch ein wenig gehen und mit dem erbettelten Korn selbst mein karges Mahl kochen. Als jedoch diese Hand abfiel, ging’s nimmer. Seitdem habe ich keine gekochten Speisen mehr gegessen. 

Seit 14 Tagen lebe ich von dem rohen Korn, das mir mitleidige Menschen aus Ferne zuwarfen. Zwei Monate habe ich unter freiem Himmel geschlafen. Vier Tage hielt ich mich hier in der Nähe des Dorfes im Kornfeld verborgen, bis der Eigentümer mit Steinwürfen mich forttrieb. Da sich das Fleisch vom Leibe löste, wagte ich es nicht, über Tag ins Dorf zu kommen; erst nach Sonnenuntergang schleppte ich mich dahin, wo Sie mich fanden.‘ 

Unter Tränen erzählte er diese Geschichte mit den vielen Einzelheiten, die ihm dabei zugestoßen, wie er verhöhnt und verspottet worden, wie man ihm aus Bosheit sein letztes Besitztum – seinen irdenen Kochtopf – zerschlagen und wie herzlose Kinder Sand und Steine auf ihn geworfen hätten – der Leser muss nämlich wissen, dass man hier an eine Seelenwanderung glaubt. Wenn der Mensch seine bösen Begierden nicht durch Selbstverleugnung und Bußübungen ertötet, ja wenn er sogar große Übeltaten begeht, so fährt seine Seele, wie dieser Glaube lehrt, nach dem Tod in ein anderes Wesen. 
Ist daher jemand von geringer Herkunft oder verstümmelt oder mit dem Aussatz behaftet, so gilt dies als Zeichen, dass die Seele dieses Menschen in ihrem früheren Leben schwere Frevel verübt habe, weshalb diese Personen von allen verabscheut und gemieden werden. 
Deshalb verstümmeln sich viele Inder auf die grausamste Weise, damit ihre Seele, von allem Irdischen befreit, endlich ins Nirwana – ins Nichts – zurücksinken könne. Welch arme, trostlose, unglücklich machende Lehre! 

Als ich den Mann, dieses arme Opfer eines solchen Glaubens, fragte, ob er jemals von der christlichen Religion gehört, antwortete er: ‚Ja, ich hörte den Namen, jedoch mehr weiß ich nicht davon.‘ Ich begann sogleich, ihm die trost- und liebreichen Wahrheiten dieses Glaubens kurz darzulegen. 
Wie milder Balsam fielen sie in sein Herz. Sogleich verlangte er, in die Zahl der Christen aufgenommen zu werden. ‚Ich habe‘, sagte er, ‚auf der Erde alles, alles verloren und möchte wenigstens im Jenseits glücklich werden. Ich finde alle Ihre Worte erhaben und rührend, ja ich hätte nie gedacht, dass es einen so gütigen und barmherzigen Gott gebe.‘ 

Da sich des Geruchs wegen niemand dem Mann auf 50 Schritte nähern wollte, übernahm ich selbst seine Pflege, brachte ihm täglich Speise und Trank und unterrichtete ihn in den Wahrheiten unserer heiligen Religion. Am fünften Tag nach seiner Ankunft ließ der Hunger nach. Am siebten nahm er weder Speise noch Trank zu sich. Trotzdem ich durch Medizin und Aufschläge eine Unmasse von Würmern entfernte, ging es doch mit dem armen Mann rasch abwärts. Da er täglich um die heilige Taufe bat, so wurde ihm endlich am achten Tag das Glück zu teil, in den Schoß der heiligen Kirche aufgenommen zu werden. 
Nach der heiligen Taufe sagte er: ‚Ich fühle mich ganz wohl, die Schmerzen haben mich ganz verlassen, ich bin jetzt überglücklich.‘ Hierauf fiel er in einen ruhigen Schlaf, aus dem er nicht wieder erwachte. Er hat wohl drüben ein besseres Los gefunden als hier. Mit Hilfe einer christlichen Witwe und eines Katechisten brachte ich die elenden Überreste zu Grabe.‘ 

Vorstehende Schilderung zeigt uns eine der schrecklichsten Erscheinungen im Missions- und Völkerleben der Heidenländer, aber auch einen der schönsten Züge christlicher Liebe und Opferwilligkeit, die sich nicht scheut, die grässlichsten Wunden zu verbinden, deren bloße Schilderung so manches Herz mit Ekel und Schauder erfüllt. 
„Und Jesus erbarmte sich des Aussätzigen und rührte ihn an.“ Auch dieses hehre Wort und Beispiel ist nicht fruchtlos geblieben und lebendig geworden in der Kirche Jesu Christi.

(Aus: die katholischen Missionen, 1911)