Sonntag, 25. Mai 2014

Wie die britische Kolonialmacht auf einen Schlag die Kapuzinermission in Somaliland vernichtete

P. Evangelist OFM Cap. mit einigen Somalis, darunter seinem Sprachlehrer

Vor einigen Monaten brachten diese Blätter die kurze Nachricht von der Zertrümmerung der Somali-Mission. Nunmehr liegen genauere Mitteilungen über die rätselhafte Tat der britischen Schutzherrschaft im Somali-Land vor.

Am 13. März 1910 erhielt der Obere der Somali-Mission den Befehl des englischen Statthalters, Sir William Manning, innerhalb einer Woche die Station Schimbiraleh aufzulösen und das ganze Missionspersonal nach Berbera an die Küste zu befördern. Als Grund dieses unerwarteten Beschlusses gab er wichtige politische Interessen an. Sofort tat P. Etienne O.F.M. Cap. Schritte, um den Abzugstermin wenigstens einige Tage hinauszuschieben; aber der Statthalter bestand auf eiliger Räumung des Postens. So mussten denn die Patres ihre schönen Schaf- und Ziegenherden, aus deren Ertrag sie die Waisenanstalt unterhalten hatten, um einen Spottpreis losschlagen und die unter großen Mühen errichteten Gebäulichkeiten und angelegten Pflanzungen der Wildnis und dem Verfall preisgeben. Auf 60 Kamele packten sie im Verein mit den Schwestern auf, was in der Eile zusammengerafft werden konnte, und am festgesetzten Tag langten die Kapuziner mit ihren Kindern, etwa 120 an der Zahl, in Berbera an.

Hier hofften sie ein ruhiges Heim, wo sie die Rückkehr ins Innere des Somalilandes in Geduld abwarten könnten, zu finden; aber gerade in Berbera stand ihnen der Hauptschlag bevor. Am Abend des Palmsonntags hörten die Patres plötzlich schwere Schritte. Sie traten vor das Haus und sahen, wie eine Abteilung indischer Truppen sich vor das Klösterchen postierte. 
Drohte Gefahr? Oder was bezweckte der Statthalter? Des anderen Morgens beschied Sir William Manning den P. Etienne zu sich und eröffnete ihm, alle Missionäre hätten jede Tätigkeit einzustellen und Berbera zu verlassen. Es seien Unruhen im Land ausgebrochen, und er habe den Patres am verflossenen Abend eine Schutzmannschaft schicken müssen. Seine Regierung verlange energisch den Abzug der Kapuziner.

P. Etienne vermochte sein Erstaunen über diese Eröffnung nicht zu unterdrücken. Von Unruhen war ihm nichts bekannt, und seit 18 Jahren, d. h. seit Eröffnung der Mission, hatten die Patres nie unter ernsten Feindseligkeiten der Somalis zu leiden gehabt. Vergebens erhob er Einspruch gegen diese gewalttätige Art des Vorgehens, vergebens erschien Bischof Clark O.F.M. Cap., Apostolischer Vikar von Arabien und Somaliland, um Berbera zu retten. 
Der Statthalter griff zu Drohungen, und so blieb den Patres nichts anderes übrig, als sich nach einem Zufluchtsort umzusehen.

Anfangs dachte Msgr. Clark daran, seine Leute mit nach Aden zu nehmen. Aber die Stadtobrigkeit widersetzte sich energisch der Einfuhr von Somalis. So reiste denn einer der Missionäre, P. Irenäus, nach Harar, ins Reich des Kaisers Menelik (Äthiopien), um vom Apostol. Vikar Jarosseau O.F.M. Cap. Aufnahme in dessen Sprengel zu erwirken.

Unterdessen bemühten sich die Patres, von der englischen Schutzherrschaft Entschädigung für die großen Verluste, die sie durch die plötzliche Vertreibung erlitten hatten, zu erhalten. Nach langen und oft peinlichen (d. h. anstrengenden bzw. schwierigen) Unterhandlungen wurde schließlich eine Summe für die verlassenen Gebäulichkeiten in Schimbiraleh ausbezahlt, da die Regierung sich bei Gründung der Anstalt vertragsmäßig zur Herausgabe der Baukosten verpflichtet hatte, falls die Patres auf höheren Befehl das Haus räumen müssten. 

In einer anderen Angelegenheit zeigten sich die Beamten rücksichtsvoller und geneigter. Es stand nämlich zu befürchten, dass die Verwandten der Waisenkinder Schwierigkeiten gegen die Abreise ihrer Stammesgenossen erheben und die Kinder zur Rückkehr in die Heimat zwingen könnten. Aber die Beamten stellten derartige Forderungen an die klagenden Somalis, dass kein einziges Kind der Mission entzogen wurde.

Voll Spannung warteten nun die Missionäre auf die Antwort aus Abessinien. Endlich lief die telegraphische Meldung ein: „herzlich willkommen“. In Eile wurde ein Schiff gemietet, und am 3. Mai stießen die vertriebenen Kapuziner vom Strand ab, um sich über Dschibuti ins Innere des Landes Ourso zu begeben. Überall fanden sie freundliche Aufnahme, sowohl von den englischen und abessinischen Beamten als von ihren Mitbrüdern, und ein Franzose schenkte ihnen ein weites Grundstück, groß genug, um von dessen Ertrag die ganze Mission zu ernähren. Die Mission im Somaliland war zerstört; aber das Somalivolk war nicht verlassen. Der Somalistamm im Gallaland hatte durch den Sturm Glaubensboten erhalten.

Die wahre Ursache der Vertreibung der Kapuziner aus dem englischen Somali-Schutzgebiet bleibt bis heute unaufgeklärt. Von Anfang an zeigte sich die britische Regierung ungemein nachgiebig gegen die muselmännische Bevölkerung, und in Streitigkeiten zwischen Christen und Mohammedanern ergriffen die Beamten regelmäßig Partei für letztere. Die vorgeschützten „wichtigen politischen Interessen“ werden wohl mit dieser Begünstigungspolitik den Mohammedanern gegenüber im engsten Zusammenhang stehen.


(Aus: die katholischen Missionen, 1911)