Sonntag, 12. Oktober 2014

Wie apostolische Armut aussieht (Teil 2)

Forsetzung von hier

Der chinesische Handelsgeist lässt sich diese Gelegenheiten nicht entgehen. Kleine Verkäufer von Zuckerrohrstengeln, Melonenkernen und anderer guter Dinge postieren sich hier und dort und machen bei dem Andrang von Leuten gute Geschäfte. Solange der Bischof an einem Ort weilt, bildet er das eine, große Tagesgespräch und den Mittelpunkt des ganzen Interesses für alle Chinesen in der Runde. Alles erregt ihre Aufmerksamkeit; jede Bewegung wird beobachtet und gedeutet, jedes Wort mit Bemerkungen begleitet, die Kleider, die Züge, die Gestalt, der Bart, das Alter, alles bildet den Gegenstand zahlloser Fragen und wissbegieriger Erörterungen. Anfangs kommen einem solche Geduldproben recht hart an, und der Unwille ist oft nahe daran, überzufließen. Man sucht sich den Blicken zu entziehen. Aber wie und wohin? Die Wände bestehen aus schlecht gefugten Balken oder Brettern, die Ritzen und Spalten für hundert neugierige Augen offen lassen. Die Fenster sind viereckige Öffnungen, die nur durch ein mit Papier überklebtes Gitterwerk geschlossen werden können. Kaum hat man sich ins Zimmer zurückgezogen, so ist auch schon das Papier an zahlreichen Stellen heimlich durchlöchert, die Löcher mehren und vergrößern sich immer mehr, und durch jedes Loch spähen zwei neugierige Augen hinein, um den unglücklichen Insassen in alle Ecken zu verfolgen und zu beobachten. Und ist ein Neugieriger befriedigt, so nehmen gleich zwei andere Augen seine Stelle ein. Man muss die Nacht abwarten und auch dann hat man erst Ruhe, wenn das Licht ausgelöscht ist.

Die Betsäle oder Oratorien werden in den meisten Fällen einfach für 1–2 Jahre gemietet, und daher lassen sich baulichen Umänderungen u. dgl. nicht gut anbringen. Reiche Leute geben ihre Wohnungen nicht leicht dazu her, da eine solche Kapelle gleich zu Mittelpunkt einer starken Bewegung wird, eine zahlreiche Menge anzieht und daher für die übrigen Hausbewohner oder die Nachbarn recht unbequem werden kann. Man muss sich also mit der Wohnung schlichter Leute zufrieden geben. Was aber den Missionär bei solchen Gelegenheiten drückt, ist weniger die Armut und Unbequemlichkeit, als vielmehr der Gedanke, wie wenig solche Lokale dem Zweck einer Kapelle entsprechen und wie wenig würdig sie die Erhabenheit der christlichen Religion vor Augen stellen, zumal im Vergleich mit den oft prächtigen Pagoden daneben, in denen die zahllosen Götzenfratzen höhnisch zu lachen scheinen.

Um die Christen zu trösten, erzählt man ihnen immer wieder von Betlehem und von der Liebe des Weltheilands zur Armut und zu den Armen. Aber es bleibt doch der Wunsch nach etwas Besserem, und er steigert sich in schmerzlicher Weise da, wo bereits die Protestanten vorgedrungen und einen ihrer Tempel hingesetzt haben. Immerhin, die Hauptsache ist, dass die Leute trotz allem kommen und zahlreich von allen Seiten kommen, so dass der Raum meist lange nicht genügt.

Tatsächlich sind die Bekehrungen seit den letzten Wirren zahlreicher denn je zuvor. In dem einen Distrikt Weng-tschu zählt man über 500 Neugetaufte, während früher die Jahreszahl für die ganze Mission höchsten auf 300 kam. Freilich macht diese Zunahme der Bekehrung den Mangel an ordentlichen Kapellen erst recht fühlbar. Die reiche Ernte fordert Scheunen, um die Garben unterzubringen. Eine wirkliche Kapelle ist eine greifbare, dem wahren Gott und der wahren Religion gebrachte Huldigung, ein Leuchtturm, ein Haus des Heils; sie ist das „Herz einer Christengemeinde, von dem der warme Pulsschlag ausgeht.“ Man will ja keine stattlichen Kirchen, wie z. B. die St. Paulskirche in Weng-tschu, welche die ganze Stadt beherrscht; es genügt ein einfach schlichter Bau, der aber gut 200–300 Christen fassen kann. Eine ordentliche Kapelle zieht die Heiden an und erleichtert den Frauen den Besuch, die in jene engen Betsäle mit ihrem Gedränge schon der Schicklichkeit halber sich kaum hineinwagen.

Wenn diese Armut seiner Mission dem Bischof auf seiner Rundreise auch manchmal recht drückend auf die Seele fiel, so fehlten doch auch die Tröstungen und Lichtblicke nicht. Die Bekehrungen sind zahlreich, die Bevölkerung zeigt sich fast überall friedlich und wohlgesinnt, die Mission hat in vielen Orten Eingang gefunden, die ehedem eine sehr feindliche Haltung einnahmen. Wiederholt wurde dem Bischof gegen seinen Willen ein militärisches Geleit gegeben, und auch seitens der Mandarine fand er fast ausnahmslos freundliche Aufnahme. „Aber“, so schließt der Bischof, „auf allen Erlebnissen der langen Reise machte sich immer und immer wieder ein Wunsch mächtig geltend: Kapellen, Kapellen! Kapellen, um Gott würdiger zu verehren, um die Heiden anzuziehen; Kapellen, um die Neubekehrten unter Dach zu bringen.“ Das ist die Kirchennot in der großen Diaspora der Heidenwelt.


(Aus: die katholischen Missionen, 1904)