Einer der ältesten und zugleich einer der wenigen Marienwallfahrtsorte, der direkt mit dem irdischen Leben der allerseligsten Jungfrau Maria in Zusammenhang gebracht werden kann, ist der Muttergottesbaum von Matarieh, der sich heute im Bezirk Al Matariyah in der ägyptischen Hauptstadt Kairo befindet.
Die Überlieferung berichtet, dass die Heilige
Familie sich nach ihrer Flucht nach Ägypten in Heliopolis, der „Sonnenstadt“
(ägyptisch Pi-Ra, Wohnung der Sonne), niederließ. Diese im Altertum berühmte
Stadt verfügte neben einem großen Sonnentempel über Schulen für Philosophie und
Astronomie, in denen die heidnischen Priester studierten. Der biblische Patriarch
Joseph heiratete Aseneth, die Tochter des Oberpriesters Putiphar, und wohnte
dort. Möglicherweise hat auch Moses dort die ägyptischen Wissenschaften
studiert. Zur Zeit des Herrn war Unterägypten Heimat zahlreicher Juden, die
sich in der Umgegend des Tempels von Leontopolis niederließen. Weil Heliopolis
bereits teilweise in Ruinen lag, so wählte die Heilige Familie Matarieh, einen
kleinen Vorort Heliopolis’ mit einer großen jüdischen Bevölkerung. Da die ägyptischen
Wohnhäuser zu jener Zeit aus Lehm waren, sind keine Überreste mehr von dem Heim
der Heiligen Familie übrig, doch bis zum heutigen Tag wird ein anderes Relikt
des Aufenthalts des Gottessohnes und seiner gebenedeiten Mutter dort verehrt: Der
Muttergottesbaum von Matarieh. Es handelt sich dabei um eine Maulbeerfeige oder
Sykomore (Ficus Sycomorus L.), wie sie im östlichen Mittelmeerraum und Afrika
weitverbreitet ist. Der Baum wird auch in der Heiligen Schrift erwähnt. Unter
einem solchen Baum, so die Überlieferung, soll sich die Heilige Familie
ausgeruht bzw. Schutz gefunden haben.[1]
In der Nähe dieses Baumes befindet sich eine Quelle. Im Bericht deutscher
Wallfahrer aus dem Jahr 1484 heißt es: „Neben uns sehen wir die geweihte
Quelle, aus der die glorreiche Jungfrau, Jesus, die Quelle der Frömmigkeit, und
Joseph, das Beispiel aller Tugenden, ihren Durst gestillt haben. Nach einer alten
Überlieferung unserer Vorfahren kam Joseph, da er auf Befehl des Engels aus dem
Lande Israel floh, mit dem Kinde Jesus und seiner Mutter an diesen Ort. Von
Durst gequält, bat er in allen Häusern Matariehs um Wasser, aber niemand gab
ihm etwas. Ganz erschöpft und ermüdet von der Reise setzte sich die
allerseligste Jungfrau mit dem Jesuskind und Joseph unter einen Baum nieder,
und siehe da: plötzlich sprudelte an ihrer Seite eine Quelle hervor, und sie
konnten sich erquicken.“
Die Quelle wird schon in frühen christlichen Texten erwähnt, so in einer Predigt des Patriarchen Theophilus, der im Jahr 406 starb. Auch das apokryphe Evangelium über die Kindheit Jesu berichtet im 24. Kapitel: „Als die erhabenen Flüchtlinge die götzendienerische Stadt verließen, gingen sie zu einer Sykomore, die man heute den Baum von Matarea nennt; und zu Matarea ließ der Herr Jesus eine Quelle hervorsprudeln, in welcher Maria, die allerseligste Jungfrau, das Unterkleid des göttlichen Kindes wusch.“ Tatsächlich scheint es an diesem Ort eine Süßwasserquelle gegeben zu haben, während sich die Brunnen aus der Umgegend aus dem Nilwasser speiste, das in den Grund einsickert. Jedoch hat sich der Boden in den Jahrhunderten derart gehoben, dass heute das Quellwasser bereits mit dem Grundwasser aus dem Nil vermischt werden müsste. P. Jullien berichtet, dass das Wasser aus Matarieh tatsächlich weniger salzig war als das Grundwasser der Umgegend, das das Salz aus dem Boden löste. Nach der muslimischen Eroberung gewann die Quelle ein solches Ansehen, dass der ägyptische Sultan vermutlich im 13. Jahrhundert dort einen Landsitz bauen ließ, dessen Balsambaum-Garten nur mit dem Wasser aus der Quelle gegossen wurde. Die osmanischen Paschas in Ägypten zogen das Wasser aus Matarieh jedem anderen Trinkwasser vor.
Matarieh muss einst über eine bedeutende koptische Kirche verfügt haben, deren Kirchweihe in allen koptischen Kirchen Ägyptens und Äthiopiens am 8. Paoni des koptischen Kalenders, dem 15. Juni des gregorianischen Kalenders, unter dem Titel „Gedächtnis der Einweihung der Kirche der Jungfrau von Heliopolis und der wunderbaren Quelle“ gefeiert wurde. Möglicherweise war dies gar die Kathedrale des Bischofs von Heliopolis, dessen Bistum sich zur Zeit des Konzils von Ephesus im Jahr 431 nachweisen lässt. Sie wurde wohl zwischen dem 6. und 12. Jahrhundert entweder beim Schisma der Kopten oder bei der islamischen Eroberung zerstört, die auch einen Wiederaufbau im Jahr 1154 verhinderten, indem sie die im Bau befindliche Kirche plünderten und zu einer Moschee machten. Im 16. Jahrhundert bauten europäische Kaufleute aus Kairo in Matarieh eine Kapelle. Der Franziskanerpater Bernardin Amico, dessen Orden mit der Pflege der Kapelle betraut war, berichtet über den Bau: „Die Katholiken haben dort [in Matarieh] zu Ehren der Himmelskönigin eine Kapelle erbaut, welche noch besteht. Man sieht sie, wenn man den vor dem Garten befindlichen Hof betritt, rechts, etwa zehn Schritte von der Sakyeh. Das Innere derselben ist nur ein durch einige Treppenstufen in zwei Teile geschiedener Saal. Ein in den Boden gemauertes längliches Bassin, eine durch eine Lampe erhellte Nische in der Wand rechts, und im Vordergrund ein als Altar dienender Steintisch bilden den ganzen Schmuck. Man sagt, dass Maria in dem Bassin die Kleider des göttlichen Kindes wusch, dass sie dasselbe auf dem Stein ruhen ließ und dass sie an dem durch die Nische bezeichneten Ort betete. (…) An jedem Samstag, an den Feiertagen und an allen Muttergottesfesten wird hier die hl. Messe gelesen.“ Zwischenzeitlich wurde die Kirche von Ibrahim Pascha in eine kleine Moschee umgewandelt; nach seiner Absetzung erlaubten die Türken jedoch wieder den Christen das Gebet dort. In den folgenden Jahrzehnten verfiel die Kapelle zusehends und verschwand in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die französischen Jesuiten in Kairo, allen voran P. Michel Jullien, der der bedeutendste Forscher auf dem Gebiet der Geschichte von Matarieh war, bauten in den 1890er Jahren eine Kirche, die diesen weniger bekannten Wallfahrtsort des Heiligen Landes – denn dazu gehört ja auch Ägypten – ehren sollte:
„Seit
einigen Jahren nun zeigt ein neues würdiges Heiligtum dem Pilger die Stelle an,
wo die heilige Familie im Lande Ägypten gewohnt hat. Es ist das Werk der im
Kolleg der heiligen Familie zu Kairo wirkenden französischen Jesuiten und
besonders P. Julliens, der sich um die Erforschung der mit der Heiligen Schrift
und der Kirchengeschichte in Verbindung stehenden Stätten so hohe Verdienste
erworben hat.
Schon von ferne grüßt aus der Mitte der Fassade
auf rotem Marmorgrund dem Pilger die Inschrift entgegen: Sanctae
familiae in Aegypto exsuli (Der heiligen Familie in ihrer ägyptischen
Verbannung geweiht).
Dieses Wort bringt denn auch die Idee zum
Ausdruck, welche der Ausführung des schönen Heiligtums zu Grunde gelegt ist. So
rufen die beiden eng aneinander liegenden Rundbogenpforten, wie man sie wohl
bei Synagogen findet, die zwei Tafeln des alttestamentlichen Gesetzes ins
Gedächtnis, unter dem die heilige Familie während ihrer Verbannung lebte.
Anlehnend an die Legende, wonach bei der Ankunft
des Heilandes die Götzenbilder von Heliopolis stürzten, wurden die tiefen
Fundamente aus Ziegeln und Scherben des alten Sonnentempels von Heliopolis
gelegt. Das Innere, ohne Reichtum, aber in schöner Einfachheit und Lichtfülle,
strahlt in lieblichen, ruhigen Tönen den Frieden und die Reinheit wieder,
welche die heilige Familie nach Ägypten gebracht. In einer Nische über dem
Hochaltar, umrahmt von harmonisch angeordneten Bogen, Gewölben und Skulpturen,
umleuchtet von mildem, bläulichen Scheine, thront die Gruppe der heiligen
Familie, das Werk eines Lyoner Meisters.
Zwei Seitenaltäre zieren liebliche Statuen des hl.
Antonius von Padua und des hl. Stanislaus Kostka, beide mit dem Jesuskind auf
dem Arm.
Am 8. Dezember des Jubiläumsjahres der
Unbefleckten Empfängnis nahm der Apostol. Präfekt des Nildeltas unter
zahlreicher Beteiligung von Pilgern aus Kairo und Umgebung die feierliche Weihe
des Heiligtums vor. Eine Widmungstafel aus Marmor soll kommende Geschlechter
daran erinnern, wie aus dem Vaterland Verbannte der verbannten heiligen Familie
dieses Denkmal gesetzt. Sie trägt die Inschrift: ‚Französische Ordensleute,
durch die gegenwärtige Verfolgung vertrieben, weihen als Zeichen der Liebe und
Hoffnung auf ihre Rückkehr ins Vaterland der verbannten heiligen Familie dies
Heiligtum.‘
Die Verehrung der heiligen Stätten hat im Laufe
der letzten Jahre einen bedeutenden Aufschwung genommen. Ordensgemeinden,
Bruderschaften, Vereine und Privatpersonen Kairos pilgern zu der heiligen
Kapelle von Matarieh, und die Pilger nach dem Heiligen Land strömen in Scharen
herbei, um die Ablässe zu gewinnen, welche an den Besuch des Heiligtums
geknüpft sind.
Vor einem Jahre reihte nämlich der Heilige Vater
die Kapelle von Matarieh den heiligen Stätten zweiter Ordnung ein, so dass
dieselbe, was Würde und Vorrechte betrifft, den Heiligtümern von Tabor, der
Werkstätte des hl. Joseph, der Kreuzauffindungs- und Mariä-Heimsuchungskirche,
dem Josephs- und Unschuldig-Kinder-Altar in der Grotte von Bethlehem usw.
ebenbürtig zur Seite steht.“[2]
Die Kirche der Heiligen Familie liegt heute genauso
wie der Muttergottesbaum wenige Hundert Meter von der U-Bahn-Station El Matarya.
Sie befindet sich in weitgehend unverändertem Zustand.
Gebet zur Heiligen Familie
„Heilige Familie, Maria und Joseph, die du zu
Matarieh trotz der Entbehrungen und Demütigungen der Armut, der Einsamkeit der
Verbannung, unter Verfolgung und Todesgefahr glücklich und zufrieden gelebt
hast, weil Jesus in eurer Mitte war, und seine Gnade in euren Herzen regierte,
erlanget den Pilgern die Gnade, dass Jesus in ihren Familien herrsche, ihnen
Geduld und Frieden verleihe in den Prüfungen, und das Vertrauen, bald davon
befreit zu werden.
Göttliches Kind Jesus, Du bist nach Ägypten
gekommen und hast dort in den ersten Jahrhunderten Deines Gesetzes der Gnade
die höchsten Tugenden erblühen lassen; gib, dass Deine Liebe und die christlichen
Tugenden in diesem mit irdischen Gütern so reich gesegneten Lande auch jetzt
wieder erblühen.“
Möge dieses Gebet des P. Jullien sich auch in
unseren Tagen erfüllen.
[1]
Der heute in Al Matariyah befindliche Baum ist wohl ein mehrere Generationen
vom ursprünglichen Baum entfernter Ableger, da die über die Jahrhunderte
beschriebenen Bäume deutlich unterschiedliche Formen aufwiesen. Der jetzige
Baum ist im Jahr 2013 zusammengebrochen und wurde in der Folge beschnitten. Aus
zwei Ästen hat sich mittlerweile ein neuer Baum gebildet.
[2]
Ein afrikanisches Heiligtum. In: die katholischen Missionen. Herder’sche
Verlagsbuchhandlung, Freiburg 1908
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