Eine Gruppe von Schwestern vom Guten Hirten und Waisenkinder in Bangalor |
Einer der schönsten Namen, die unser Herr sich selbst gegeben hat, ist der des „Guten Hirten“, und einer der schönsten Berufe ist es ohne Zweifel, jene Unsumme von Liebe, Hingabe, Geduld und Opfersinn, die in diesem Bilde eingeschlossen liegt, an den geringsten Brüdern Christi zu betätigen. Das ist auch der Beruf der Schwestern vom Guten Hirten. Wohl nirgends aber findet derselbe ein dringlicheres Arbeitsfeld als in jenen heidnischen Großstädten des fernen Ostens, wo neben unerhörter Pracht ein Ozean von leiblichem und sittlichem Elend flutet.
Wiederholt wurde dieser Wirksamkeit in diesen Blättern gedacht. Folgender Bericht der Oberin, Mutter Albertine Sträßle, bringt einige ergänzende Einzelbilder.
Zunächst schildert sie den abermaligen Ausbruch der Pest in Bangalor und Umgebung und die Tätigkeit der Schwestern im Pestlager, und fährt dann fort:
„Wir fügen einige kleine Geschichten bei, wie sie uns alle Tage vorkommen, um unsern Wohltätern und Freuden eine Idee vom Leben und Treiben in unserer Mission zu geben.
Eines Tages kam eine arme Frau mit zwei Mädchen im Alter von etwa drei und fünf Jahren an die Pforte; alle drei waren wahre Bilder von Elend und Verlassenheit. ‚Sehen Sie,‘ sagte sie, ‚diese zwei Kinder; das eine ist meins, das andere gehört meiner verstorbenen Schwester; ihre Väter sind auch tot. Ich muss den ganzen Tag arbeiten, um sie ernähren zu können; darum vertraue ich sie während meiner Abwesenheit einer Nachbarin an; aber ich sehe, dass sie die Kinder nur schlägt und misshandelt, anstatt sie zu pflegen.
Heute hat mir die Dame, bei der ich arbeite, meinen Lohn abgeschlagen und sagt, dass ich ihn nicht verdient habe; so ist denn ein Monat Arbeit für mich dahin. Ich habe ohnehin Schulden und soll nebenbei zwei Kinder ernähren, das kann ich nicht. Wenn Sie die Kinder im Kloster wollen, können Sie sie nehmen, wenn nicht, lasse ich sie auf der Straße‘, und mit einer zornigen, verächtlichen Gebärde ging sie von dannen.
Wir nahmen die armen Kleinen in die Waisenklasse, wo eben der Mittagsreis verteilt wurde. Man gab ihnen sogleich eine tüchtige Portion, die im Nu verschwunden war. Auch die wenigen Reiskörner, die auf den Boden gefallen waren, hoben sie sorgfältig auf, um sie zu verzehren.
Alsdann wurden sie gründlich gereinigt und gesäubert, und bei dieser Prozedur konnten wir die Spuren der Stockschläge sehen, die sie im Überfluss bei ihrer Pflegerin erhalten hatten. Als ihnen dann noch reine Kleider angelegt wurden, konnten sich die beiden Kleinen vor Wohlbehagen nicht fassen und blickten sich gegenseitig voll Erstaunen an.
Nach einiger Zeit empfingen sie die heilige Taufe und siehe, an demselben Tag kam die Frau, die uns die Kinder zugeführt hat, aber seither sich nicht um dieselben bekümmert hatte, zum Kloster und bat um Aufnahme und Unterricht in unserer heiligen Religion.
Wir gewährten ihr beides, und nach Verlauf von einiger Zeit wurde auch sie zur heiligen Taufe zugelassen. Sie gibt gute Hoffnung für ihre Beharrlichkeit im Christentum. Die Kinder sind glücklich wie kleine Vögelchen und haben sich ganz im Kloster eingelebt, das sie wohl erst verlassen werden, wenn sie einmal erwachsen und im katholischen Glauben wohl gegründet sind (siehe Bild oben).
Ein andermal, als wir eben mit unseren Schwestern zur Erholung versammelt waren, klopfte es an die Türe. Eine kleine Eingeborene, etwa sechs Jahre alt, tritt herein, ihre jüngere Schwester von etwa zwei Jahren nach dem Brauche der Eingeborenen an der Hüfte tragend.
Die jüngere von beiden war ungemein scheu und weinte und schrie bei unserem Anblick; aber die ältere liebkoste sie mit ganz mütterlicher Zärtlichkeit und beruhigte das Kind. Die beiden wollten sich nicht eine Minute trennen. Sie wurden zur Waisenklasse geführt, gespeist, gebadet, gekleidet und dann der Gesellschaft der anderen kleinen Mädchen einverleibt, wo sie sich bald heimisch und glücklich fanden.
Ein Brief des Missionärs ihrer Pfarrei sagte uns, dass die beiden Kleinen ihre Mutter durch die Pest verloren hätten. Der Vater wusste nicht, was mit den Kindern anfangen, und übergab sie dem Missionär, damit er mit ihnen tue, was er für gut finde, und so kamen sie zu uns.
Sie wurden bald getauft, und besonders die jüngere, die viel Intelligenz zeigt, ist der Liebling des Hauses und von jedermann gehätschelt. Möge sie heranwachsen zu Freude des göttlichen Hirten, der in seinem Hause den armen, verlassenen Kleinen ein Heim bereitet hat!
(Aus: Die katholischen Missionen, 1901)